Ältere Menschen in der Coronavirus-Krise: Aufgrund der aktuellen Ausnahmesituation können viele Senioren ihre Wohnung oder ihr Haus nicht verlassen – nicht einmal, um einkaufen zu gehen.
Wie für alle ist es auch für sie ein großes Opfer, zu Hause zu bleiben, das viele Emotionen und aus psychologischer Sicht nicht wenige Schwierigkeiten aufkommen lässt.
Um Klarheit über die Umstände zu schaffen und auch ein paar praktische Ratschläge darüber einzuholen, wie man älteren Menschen helfen kann, die momentan in Isolation zu Hause leben, haben wir mit Carla Faggioli, Psychologin und Psychotherapeutin bei der FSP in Lugano, gesprochen.
„Wir befinden uns gerade in einer außerordentlichen und einzigartigen Situation, die unseren Alltag und unsere gewohnte Routine komplett durcheinanderbringt und es unmöglich macht, den Gewohnheiten nachzugehen, die für ältere Menschen oft das sind, was ihnen Sicherheit und Stabilität gibt.
Wir haben den Eindruck, unseren Alltag mit unseren Gewohnheiten unter Kontrolle zu halten. Jetzt ist es so, als habe ein Tsunami alles an die Oberfläche gebracht, was tief unten geschlummert hatte: Instabilität und Verletzbarkeit. Wir sind daher gezwungen, innerhalb von kurzer Zeit ein neues Schema mit Gewohnheiten zu schaffen, da wir anderenfalls ein Gefühl von Unsicherheit und Angst haben.
In diesem Moment können Aspekte zutage kommen, die wir im Laufe der Jahre nicht sehen wollten oder die wir nicht kompensiert haben. Aus diesem Grund kommt auch das Bild, das wir von uns hatten, durcheinander. Eine solche Situation ruft zwei Reaktionen hervor: Einige werden aufgrund von Frustration wesentlich aggressiver, andere wiederum depressiv und niedergeschlagen aufgrund der Mühe, die die Umstände mit sich bringen.
Dies gilt auch für Menschen in fortgeschrittenem Alter, die in Isolation zu Hause leben, und insbesondere für diejenigen, die bereits besonders verletzlich und eingeschränkt sind.“
„Dieser durch das Coronavirus ausgelöste Tsunami fördert Gedanken und Erinnerungen zutage, die sich darauf auswirken, wie wir das wahrnehmen, was um uns geschieht. Viele ältere Menschen haben Angst und fragen sich: Was wird mit mir? Wir wird das enden? In diesem Moment ist an vielen Häusern ein Regenbogen und der Satz „
Alles wird gut“ zu sehen – ein Ausdruck der Bevölkerung, der das Bedürfnis ausdrückt, uns gegenseitig zu unterstützen. Um die Angst unter Kontrolle zu halten, muss dieser Spruch jedoch durch den Verweis auf konkrete Handlungen ergänzt werden.“
Mit anderen Worten: Alles wird gut, weil ich zu Hause bleibe. Alles wird gut, weil ich mir die Hände wasche. Alles wird gut, weil ich die soziale Distanz halte. Dr. Faggioli hebt hervor: „Wir müssen auch Informationen liefern, die eine konkrete Grundlage dafür geben, dass alles gut wird.“
„Für in Isolation lebende ältere Menschen ist es in diesem Moment auch wichtig, sich freuen zu können, zu wissen, dass es etwas gibt, worüber sie sich freuen können. Eine meiner Patientinnen beispielsweise freut sich und ist glücklich darüber, dass ihre Kinder für sie einkaufen und sie häufiger anrufen. Viele Kinder kümmern sich mehr um ihre älteren Eltern, was diese glücklich macht.“
Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass eine Person und auch ältere Menschen den ganzen Tag Freude empfinden.
„Es ist wichtig, die eigenen Emotionen anzunehmen, die auch von einer Stunde zur anderen variieren können“, rät die Psychologin aus Lugano.
„Wir müssen lernen, uns selbst Gesellschaft zu leisten. Außerdem muss man die Geschehnisse aus einer kreativen Perspektive betrachten, d.h. auch das Schöne und die positiven Seiten an der Situation sehen.“
„Viele ältere Menschen, die derzeit in Isolation zu Hause leben, riskieren, sich in eine Wut zu steigern, die über ihren eigentlichen Willen hinausgeht. Sie konnten immer frei ausgehen und andere Menschen treffen, und nun ist es ihnen sogar untersagt, einkaufen zu gehen. Ein solches Verbot kann auch zu großer Wut führen, wenn man die zugrunde liegende Motivation nicht akzeptiert: dass das eigene Zuhause in diesem Moment Schutz bietet.
Es ist nicht einfach, diesen Aspekt verständlich zu machen. Man kann ihn jedoch verdeutlichen, indem man den älteren Menschen in Erinnerung ruft, wie es war, als ihre Kinder noch klein waren. Wie oft haben sie ihren Kindern Anweisungen gegeben, die nur für ihr Bestes waren?
Ein Verbot für ein Kind wie beispielsweise, nicht mit Messern zu spielen, dient objektiv zu seinem Schutz. Und selbst, wenn das Kind weinend um das Messer bittet, wird es ihm trotzdem nicht gegeben. Dieses Beispiel verdeutlicht älteren Menschen, dass die Emotionen, die sie gerade durchleben, nur eine natürliche Folge von Frustration und einem Gefühl der Hilflosigkeit sind.
Man kann den älteren Menschen verständlich machen, dass die Ärzte Dinge wissen, die wir nicht wissen und auch nicht sehen und somit erkennen können. Man braucht Zeit, um die Wut zu verstehen, um sie zu akzeptieren und anzunehmen und schließlich zu verdauen.“
„Um zum Beispiel des Spruchs „Alles wird gut“ zurückzukommen: Wir müssen gerade die älteren Menschen auch daran erinnern, dass alles gut wird, weil sie nicht allein sind. Den zu Hause in Isolation lebenden Senioren müssen wir ins Gedächtnis rufen, dass sich der Staat und die Angehörigen um sie kümmern, und das auch in Form von Verboten. Und wir haben die Gelegenheit über Dinge nachzudenken, die nicht gut laufen, aber gut laufen können. Es gibt zum Beispiel ältere Menschen, die den Kontakt zu ihren Verwandten abgebrochen haben.
Und die aktuelle Situation kann eine Gelegenheit sein, diese Beziehungen wieder aufleben zu lassen. Die Bedürfnisse, die in mir aufkommen, können in dem Maße alles zum Guten wenden, in dem ich mich frage: Was kann ich tun?”
„Traurigkeit ist auch ein Gefühl des Verlusts: Etwas für uns Wichtiges ist verloren gegangen. Wir müssen immer daran denken, dass diese außerordentliche Situation zeitlich begrenzt ist. Es hilft, Grenzen zu setzen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass sie ein Ende haben wird. Es ist normal, dass zu Hause in Isolation lebende ältere Menschen depressiv sind, da sie vorübergehend bestimmte Dinge nicht mehr haben. Diese Personen müssen daran erinnert werden, dass die Sonne hinter den Wolken wartet.“
Wir können wir konkret Menschen helfen, die aufgrund des Coronavirus zu Hause in Isolation leben müssen und deswegen eine Depression entwickelt haben?
„Wenn man etwas verloren hat, ist es wichtig, dabei zu helfen, die Leere zu füllen und die Kreativität zu fördern“, erklärt die Psychologin und Psychotherapeutin Carla Faggioli. „Alles, was in irgendeiner Form kreativ ist, bekämpft das Gefühl von Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit. Die älteren Menschen zu Hause, und nicht nur sie, müssen sich in dieser Situation die Frage stellen: Worin bin ich gut? Zum Beispiel im Malen, Kochen, Basteln, Schreiben… und es dann auch tun.
Für ältere Menschen ist es außerdem wichtig, sich an die Vergangenheit zu erinnern und davon zu erzählen (auch am Telefon). Auch das kann aus der Depression helfen und ihnen bewusst machen, dass sie anderen noch etwas geben können. Ebenfalls helfen kann in diesem Moment, davon zu träumen, was man nach Ende dieser Phase macht. Dies sind Ratschläge, um diese Situation etwas zu erleichtern und sich selbst Gesellschaft zu leisten – in einem Gemütszustand, der nicht unterdrückt, sondern angenommen und begleitet werden muss.“