Die Schweiz erlebt gerade die zweite Welle des neuen Coronavirus Covid-19. Im Unterschied zur ersten Welle stehen heute den Ärzten und dem medizinischen Personal jedoch sehr viel mehr Informationen und Kenntnisse zur Bekämpfung des neuen Coronavirus zur Verfügung.
Dr. med. Pietro Gianella, Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie des Krankenhauses in Lugano, erläutert uns die Unterschiede zwischen Covid-19 und einer normalen Grippe bzw. Influenza und gibt eine Reihe von Empfehlungen für den Umgang mit dieser neuen Krankheit.
Unterschiede zwischen Coronavirus und Grippe
„Bei Covid-19 handelt es sich um ein Virus, das eine akute Infektion der Atemwege verursacht. In den meisten Fällen infiziert das Virus nur die oberen Atemwege (Nase, Hals), aber in 15-20% der Fälle kann die Infektion auch die Lungen betreffen und zu einem schwereren Verlauf der Krankheit führen“, so der Arzt aus Lugano.
„Sowohl die Grippeviren, oder Influenza-Viren, als auch Covid-19 sind Atemwegsviren, der Unterschied liegt jedoch darin, dass bei Covid-19 eine höhere Wahrscheinlichkeit zu Atemversagen aufgrund von verschiedenen physiopathologischen Mechanismen besteht.“
Unterscheiden sich die Inkubationszeiten der beiden Krankheiten?
„Ja. Es sind 1-2 Tage für die Grippe und 4-5 Tage für Covid-19. Auch die Dauer der Krankheit ist unterschiedlich: Eine normale Grippe dauert 3 bis 5 Tage, im Falle des Coronavirus sind es 7 bis 14 Tage. In einem Fünftel der Covid-19 Fälle ist ein mittelschwerer oder schwerer Krankheitsverlauf zu beobachten, bei der Grippe dagegen liegt das Verhältnis bei 1 zu 50, d. h. einer von fünfzig Erkrankten muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Symptome bei Grippe und Coronavirus: So unterscheiden sie sich
„Die Symptome ähneln sich im Wesentlichen, das Coronavirus unterscheidet sich von einer normalen Atemwegsinfektion jedoch durch eine höhere Wahrscheinlichkeit zu Atemversagen – der Aspekt, der am meisten Furcht einflösst“, fährt Dr. med. Pietro Gianella fort.
„Dies ist auf eine Entzündung des Lungengewebes, aber auch auf die Bildung von Thromben oder Blutgerinnseln im Lungengefässbett zurückzuführen. Auch der Verlust des Geruchs oder Geschmacks sind klinische Aspekte, die für Covid-19 spezifisch sind. Diese Störungen können mehrere Monate andauern, im Allgemeinen erlangen die Betroffenen den Geruchs- und Geschmackssinn jedoch wieder.
Die jahreszeitlich bedingte Gruppe ist nie asymptomatisch, während beim neuen Coronavirus eine Reihe infizierte Personen weitgehend asymptomatisch sind und andere wiederum an der Erkrankung sterben. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?
„Ich untertreibe, wenn ich sage, dass noch nicht alles geklärt ist. In den letzten 10 Monaten wurden mehr als 60 000 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Covid-19 herausgegeben, aber Vieles ist noch ungeklärt. Die Viruslast kann eine Rolle spielen und auch die Entzündungsreaktion ist sehr wichtig, wir sind jedoch nicht in der Lage vorherzusehen, wer eine schwere Covid-Infektion entwickeln wird und wer nicht“, erklärt der Arzt.
„Auch bei der jahreszeitlich bedingten Grippe kann das klinische Bild von einem Patienten zum anderen unterschiedlich sein. Hier spielen nicht nur das Virus, sondern auch die Merkmale der betroffenen Person eine nicht unerhebliche Rolle, d. h. ob es sich um eine ältere oder um eine jüngere Person handelt, ob sie Begleiterkrankungen aufweist, oder der Grad der Immunsuppression. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass unser Immunsystem nicht immer gleich stark ist. Stresssituationen, mangelnde körperliche Fitness und Schlafmangel sind einige der Faktoren, die es schwächen können.“
Behandlung von Covid-19
Gibt es eine Behandlung für Covid-19? Dr. med. Pietro Gianella antwortet: „Meiner Ansicht nach muss zunächst zwischen „behandeln“ und „heilen“ unterschieden werden. „Behandeln“ im Sinne von „sich um die an Covid-19 erkrankten Personen kümmern“ ist sicherlich möglich. „Heilen“ im Sinne von „Heilmittel einsetzen, die die Krankheit heilen“ leider nicht. Das bedeutet nicht, dass wir dem Virus ausgeliefert sind, aber es ist sicherlich besser, eine Infektion mit Hilfe der Vorsorgemassnahmen zu vermeiden als bei bereits eingetretener Krankheit gegen das Virus zu kämpfen.“
Wir wird Covid-19 behandelt?
Der Arzt des regionalen Krankenhauses von Lugano unterscheidet zwischen den verschiedenen Stadien der Krankheit:
- Leichte Covid-19 Erkrankung mit Patient in häuslicher Pflege. Die Symptome sind in diesem Fall Fieber, Angstzustände, Unruhe. In diesem Fall kommt die antithrombotische Prophylaxe bei Patienten mit Risikofaktoren zum Einsatz: Personen im Alter von mehr als 50 Jahren, Übergewicht, Tumorerkrankungen und Tendenz zur Entwicklung von Thrombosen.
- Mittelschwere Covid-19 Erkrankung mit Patient im Krankenhaus. Die Therapie umfasst in diesem Fall Sauerstoffversorgung, Flüssigkeitszufuhr, thromboembolische Prophylaxe und Beatmung. Bei bakterischen Co-Infektionen (die in 10% der Fälle auftreten) werden Antibiotika verabreicht. Ebenso kommt Remdesivir zum Einsatz, ein antivirales Mittel mit breitem Wirkungsgrad, das die Sterblichkeit der eingelieferten Patienten zu reduzieren scheint. Wenn der Patient künstlich mit Sauerstoff versorgt wird, bekommt er auch systemisches Cortison, das bei schwerer oder kritischer Erkrankung die 28-Tage-Mortalität und Intubation reduziert.
- Schwere und kritische Covid-19 Erkrankung mit Patient auf der Intensivstation.
Empfehlungen zur Bekämpfung von Covid-19
Gegenüber dem Monat März wurden Fortschritte gemacht und es gibt eine Reihe von Massnahmen, die zu berücksichtigen sind, um die Verbreitung des Virus zu verhindern.
Pietro Gianella fährt fort: „Ich denke, dass wir einen grossen Schritt weiter sind, was das Verständnis und die Anwendung der Vorsichtsmassnahmen betrifft: Schutzmaske, Desinfektion der Hände, Abstand, Schutz der schwächeren Personen und ich füge eine Massnahme hinzu, über die weniger gesprochen wird, auch wenn ihr Nutzen nachgewiesen ist: Auf Zigaretten und Tabak sollte verzichtet werden, da dies die Wahrscheinlichkeit des schweren Krankheitsverlaufs um 50% reduziert.
Dies betrifft 20% der Bevölkerung im Alter von mehr als 16 Jahren. Es mag zwar schwer erscheinen, in einer so stressigen Zeit wie dieser mit dem Rauchen aufzuhören, es wäre jedoch ein positiver Aspekt, dem man dieser Pandemie abgewinnen kann. Auf pharmakologischer Ebene sind unterstützende Massnahmen wie die systemische Antikoagulation der im Krankenhaus befindlichen Patienten und der Personen mit Risikofaktoren eine Neuheit, die Ende April dieses Jahres eingeführt wurde. Ausserdem stehen uns Daten über die geringe Wirkung einiger Arzneimittel zur Verfügung, die in der allerersten Phase eingesetzt wurden, was jetzt nicht mehr geschieht (Hydroxychloroquin und Lopinavir/Ritonavir).“
Gibt es Empfehlungen für ein Arzneimittel?
„Ich antworte provokativ: Vorbeugung. Wir haben noch kein spezifisches antivirales Mittel, das in der Lage ist, den Infektionsverlauf zu stoppen. Mit anderen Worten, es gibt kein einzelnes Arzneimittel, sondern bisher nur eine Reihe von unterstützenden Massnahmen (Sauerstoffversorgung, Flüssigkeitszufuhr, Beatmung) sowie pharmakologische Hilfsmittel (Antikoagulationsmittel, Cortison) zur Unterstützung des Organismus während der Erkrankung und zur Vermeidung von Komplikationen.
Wir sind noch nicht in der Lage, den Verlauf einer Infektion durch Covid-19 zu beeinflussen.“
Folgen des Coronavirus
Hinterlässt Covid-19 dauerhafte Schäden in den Lungen der Genesenen? „Wissenschaftlicher Literatur zufolge lassen sich bei ungefähr einem Drittel der Patienten 3 Monate nach Krankenhauseinlieferung eine leicht bis moderat reduzierte Fähigkeit der Lunge zur Sauerstoffaufnahme oder Veränderungen des Lungengewebes beobachten, die durch eine CT des Brustkorbs sichtbar werden.
In Pneumologie und Innerer Medizin führen wir gerade eine Untersuchung mit 40 Patienten durch, die in die Krankenhäuser des Kantons eingeliefert wurden, und wir kommen zu den gleichen Ergebnissen. Wir werden sehen, ob 12 Monate nach der Infektion eine Verbesserung gegenüber den Ergebnissen nach 3 Monaten zu erkennen ist.
Bei asymptomatischen Patienten besteht in jedem Fall kein Grund, spezifische Untersuchungen durchzuführen. Bei anderen viral bedingten Atemwegsinfektionen wie SARS im Jahre 2003 sind diese Veränderungen nach 6-12 Monaten weitgehend wieder verschwunden, für Covid-19 liegen uns jedoch noch keine entsprechenden Daten vor“, schliesst Dr. med. Pietro Gianella ab.